Nutzerrechte in Gefahr: Neue Klage gegen Werbeblocker wirft Fragen auf
Vor fast zwei Jahren haben wir uns gefreut, einen großen Erfolg im langen Rechtsstreit zwischen dem Werbeblocker Adblock Plus und dem deutschen Medienkonzern Axel Springer bekanntzugeben. Damals wies das Gericht Springers Argument zurück, dass Werbeblocker das Urheberrecht verletzen würden, weil sie den HTML-Code einer Website verändern, um Werbung zu entfernen.
Heute, im Jahr 2025, lebt der Fall wieder auf. Der Bundesgerichtshof hat ihn erneut auf die Agenda gesetzt. In den Schlagzeilen geht es zwar um Verlage und angebliche Urheberrechtsverletzungen, aber die eigentliche Frage betrifft Millionen von Menschen: Was bedeutet dieses Verfahren für sie im Alltag?
Ein kurzer Rückblick: Rechtsstreit Axel Springer vs. Adblock Plus
2015 — Der Anfang: Axel Springer, einer der größten deutschen Verlage, startete eine juristische Kampagne gegen Adblock Plus. Das Unternehmen behauptete, der Werbeblocker schade seinem Geschäftsmodell und verstoße gegen Wettbewerbsrecht.
2018 — Urteil: Im April 2018 wies der Bundesgerichtshof die Klage ab und erklärte Werbeblocker für legal.
Strategiewechsel: Springer setzte danach auf Urheberrecht. Die Argumentation: Das Verändern von DOM/CSSOM (Strukturen, die ein Browser zur Darstellung einer Website erstellt) sei eine Änderung eines Computerprogramms und verletze damit das Urheberrecht.
2022 — Urteil: Das Landgericht Hamburg wies diese Klage ab.
2023 — Urteil: Auch das Hanseatische Oberlandesgericht entschied, dass Adblocking den Programmcode nicht beeinträchtigt.
31. Juli 2025: Der Bundesgerichtshof hat die Klage von Axel Springer erneut aufgenommen und den Fall an das Landgericht zurückverwiesen. Die Richter erklärten, die technischen Details zum Zusammenspiel von Browsern und Erweiterungen seien bislang nicht ausreichend geprüft worden. Nun muss die Vorinstanz erneut klären, ob Werbeblocker tatsächlich eine Urheberrechtsverletzung darstellen.
Währenddessen setzt eyeo, das Unternehmen hinter Adblock Plus, den Kampf fort — nicht nur um sein Produkt zu verteidigen, sondern auch, um Rechte wie Privatsphäre, Sicherheit und Kontrolle über das eigene Internet zu bewahren.
„In diesem Verfahren geht es um weit mehr als nur um Werbeblocker: Es betrifft die Privatsphäre und Sicherheit von Millionen von Menschen. Juristisch wurde der Fall an das Landgericht zurückverwiesen, um technische Details zu klären. Wir sind zwar zuversichtlich, was den Ausgang angeht, aber sollte sich Springers Sicht durchsetzen, könnten sogar das Blockieren von Trackern, das Vergrößern von Schrift für bessere Lesbarkeit oder das Zoomen auf einer Seite als Urheberrechtsverletzung gelten.
Dann läge es allein bei den Website-Betreibern, zu entscheiden, ob eine Änderung der Darstellung erlaubt ist oder nicht. Wir sind überzeugt, dass kein einzelnes Unternehmen eine solche Macht haben sollte und dass jeder frei entscheiden darf, wie er das Internet nutzt.
Dies ist bereits das sechzehnte Mal, dass wir vor Gericht für digitale Rechte eintreten. Unser Einsatz für Freiheit und Selbstbestimmung im Netz bleibt unverändert — und wir werden diese Werte weiterhin verteidigen.“
— Cornelius Witt, Director of Global Public Affairs, eyeo
Mögliche Folgen
Dieses Urteil könnte weitreichende und unerwartete Folgen haben — weit über Werbeblocker hinaus. Wir möchten einige davon aufzeigen, die auf den ersten Blick nicht sofort erkennbar sind.
Alle Browsererweiterungen, nicht nur Werbeblocker
Der Rechtsstreit dreht sich nicht nur um Werbung. Werbeblocker verändern das DOM (Document Object Model), damit Ihr Browser Webseiten anders darstellt — bestimmte Elemente werden ausgeblendet oder entfernt. Axel Springer behauptet nun, dass diese Interpretation von Bytecode durch Browser-Engines urheberrechtlich geschützt sein könnte.
Wenn Sie eine Website öffnen, sendet der Server den Code (HTML, CSS, JavaScript) an Ihren Browser. Ihr Browser baut daraus ein DOM — eine Art lokaler „Bauplan“ der Seite — und zeigt es auf Ihrem Bildschirm an. Erweiterungen greifen in dieses DOM ein und verändern, wie die Seite für Sie aussieht und funktioniert. Der ursprüngliche Code vom Server bleibt jedoch unangetastet. Nur die lokale Darstellung wird so angepasst, dass sie besser zu Ihren Vorlieben passt.
Und genau hier liegt der Knackpunkt: Dieses Prinzip nutzen nicht nur Werbeblocker, sondern unzählige andere Erweiterungen:
- Hilfstools, die Schriften für Menschen mit Leseschwäche anpassen;
- Dark-Mode-Erweiterungen, die Farben invertieren;
- Übersetzungserweiterungen, die den Originaltext ersetzen;
- Passwort-Manager, die Login-Felder automatisch ausfüllen.
Wenn Gerichte zu dem Schluss kämen, dass das Anpassen des DOM eine „Urheberrechtsverletzung“ darstellt, würde das die Grundlage des gesamten Ökosystems von Browsererweiterungen infrage stellen. Mit anderen Worten: Jedes Tool, das Ihr Surfen im Internet verbessert, könnte plötzlich illegal sein.
Freiheit und digitale Rechte
Wenn Sie aus einem Werbeflyer ein Papierflugzeug falten oder darauf herumkritzeln, spricht niemand von einer „Urheberrechtsverletzung“. Aber sobald Sie ein digitales Tool nutzen, um Ähnliches zu tun, könnte es plötzlich als illegal gelten.
Damit stellt sich eine viel grundlegende Frage: Haben Sie das Recht zu entscheiden, was Sie auf Ihrem eigenen Gerät sehen? Oder müssen Sie Inhalte genau so konsumieren, wie es Hersteller vorgeben — auch wenn das Privatsphäre, Barrierefreiheit oder Sicherheit beeinträchtigt?
Wenn alltägliche Tools — also die zahllosen Erweiterungen, die Millionen Menschen nutzen — eingeschränkt oder verboten würden, geht es nicht nur um den Verlust von Kontrolle. Es betrifft auch den Schutz der Privatsphäre und sogar die Sicherheit. Sie könnten gezwungen sein, aufdringliche Werbung und Tracking zu akzeptieren. Und auch schädliche Anzeigen (Malvertising) könnten sich stärker verbreiten.
Menschen weltweit
Es wäre kurzsichtig zu glauben, dass dieser Fall nur Deutschland betrifft und deshalb im großen Ganzen unbedeutend ist. Deutschland gibt bei digitalen Grundsatzfragen in Europa oft den Ton an — wie schon beim Datenschutzgesetz DSGVO.
Wenn deutsche Gerichte entscheiden, dass DOM-Anpassungen eine Urheberrechtsverletzung darstellen, hat das nicht nur Auswirkungen auf Deutschland. Andere EU-Länder werden wahrscheinlich nachziehen. Und damit könnte sich dieser Präzedenzfall weltweit verbreiten.
Kommentar des AdGuard-CTO
Unser CTO und Mitgründer Andrey Meshkov hat die technischen Vorwürfe genauer untersucht. Hier teilen wir seine Einschätzung:
Ich möchte die Argumente von Axel Springer aus einer technischen Perspektive betrachten — und zwar von Anfang an, von den Ursprüngen des Internets und dem, was es eigentlich sein sollte.
Axel Springer behauptet, dass werbebasiertes Filtern im Browser eine Urheberrechtsverletzung darstellt. Ihrer Ansicht nach gibt der HTML-Quellcode einer Webseite dem Browser vor, wie eine Seite dargestellt werden soll, und alle weiteren Aktionen oder Daten, die der Browser dabei erzeugt oder herunterlädt, seien Teil eines großen „Website-Programms“. Webseiten wären damit im Prinzip Cloud-Anwendungen, die denselben Schutz wie Computerprogramme genießen sollten. Jede Veränderung der Darstellung einer Seite wäre dann eine Urheberrechtsverletzung.
Das World Wide Web war ursprünglich als Netzwerk zum Teilen von Dokumenten gedacht. Konkret: Bob konnte ein Dokument auf seiner „Seite“ veröffentlichen, und Ben konnte es herunterladen und lesen.
Das WWW betrachtet Dokumente, die über Links aufeinander verweisen.
— World-Wide Web, Tim Berners-Lee, Robert Cailliau
Und wie liest Ben dieses Dokument? Am einfachsten war es, es in einem Programm wie Notepad zu öffnen — oder in einem von Hunderten anderen Texteditoren. Natürlich bestimmte das Programm, wie das Dokument aussah: Schriftgröße, Farbe, Typografie. Das Dokument wurde auf dem eigenen Computer geöffnet.
Eine der revolutionärsten Ideen des WWW waren Hyperlinks. Um die Navigation einfacher zu machen, wurden die ersten Webbrowser entwickelt. Aber auch dort war es — wie zuvor bei Notepad — der Browser selbst, der entschied, wie das Dokument dargestellt wurde.
Einige Beispiele der ersten Browser:
All diese Browser wären illegal, wenn Axel Springer mit seiner Argumentation durchkäme. Denn keiner von ihnen hätte die „geliebte" Werbung von Axel Springer anzeigen können.
Als sich das Web weiterentwickelte, kamen neue Konzepte hinzu — CSS, JavaScript, dynamische Dokumente. Doch das Wesen blieb gleich: Es handelte sich immer noch um Dokumente. Der Browser lädt sie auf den Rechner herunter und zeigt sie an. Wichtig ist: In dem Moment, in dem Sie die Seite sehen, befindet sich das Dokument bereits auf Ihrem Computer. Der Browser stellt es Ihnen lediglich dar.
Mit der Zeit begannen Browser, gemeinsame HTML- und CSS-Standards zu befolgen — wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Interessant ist: Die Spezifikationen selbst erlauben ausdrücklich, dass Browser und Menschen eigene Darstellungen anwenden. Zum Beispiel heißt es in 3.1.5 Default style sheet und 6.4.2 !important rules:
Sowohl Autoren- als auch Benutzer-Stylesheets dürfen „!important“-Anweisungen enthalten, und die „!important“-Regeln der Benutzer überschreiben die der Autoren.
Und der Grund dafür ist eindeutig:
Diese CSS-Funktion verbessert die Zugänglichkeit von Dokumenten, weil Menschen mit besonderen Anforderungen die Darstellung (große Schrift, bestimmte Farbkombinationen usw.) selbst steuern können.
Auch das Überspringen oder Deaktivieren bestimmter Inhalte gehört seit Langem zu den Browser-Funktionen. Einige Beispiele:
- In fast allen Browsern lässt sich JavaScript komplett deaktivieren (aus Sicherheits- oder Leistungsgründen).
- Die meisten Browser erlauben das Abschalten von Bildern (ursprünglich, um Bandbreite zu sparen und Seiten schneller zu laden).
- Es gibt viele Text-Browser (z. B. Lynx) oder Sprach-Browser, die CSS und komplexe Layouts ignorieren und Inhalte stark vereinfacht darstellen.
Aus Sicht der Standards sind HTML und CSS kein starres „Programm“ mit einem festgelegten Ergebnis. Es sind Inhalte, die je nach Kontext unterschiedlich dargestellt werden können. HTML wurde sogar bewusst mit graceful degradation entwickelt: Inhalte sollen nutzbar bleiben, auch wenn bestimmte Funktionen (Bilder, Styles, Skripte) fehlen. Das widerspricht direkt der Idee, es gäbe nur eine „richtige“ Art, eine Website darzustellen.
Ehrlich gesagt würde ich den Begriff Programm für Webseiten gar nicht verwenden. Seiten im Internet sind nicht mehr „Programme“ als ein Word-Dokument. Das einzige echte Programm in diesem Bild ist der Server, der Dokumente vorbereitet und zum Herunterladen bereitstellt.
Dieser Fall ist nichts Geringeres als eine Bedrohung für das Internet, wie wir es kennen. Ich könnte unzählige Beispiele nennen, was plötzlich illegal wäre, aber fangen wir mit dem Einfachsten an: Schon die Wahl des Browsers könnte ein Problem werden. Nach der Logik dieser Klage gäbe es nur eine „korrekte“ Darstellung von Inhalten. Jede Abweichung davon würde als Verstoß gelten. Das würde die meisten Browsererweiterungen, fast alle modernen Browser und — ironischerweise — die Webstandards selbst verbieten.
Aus meiner Sicht stellt das alles auf den Kopf. Und als Ingenieur möchte ich betonen: Was hier gefordert wird, ist technisch unmöglich. Selbst wenn jede Seite nur noch aus statischen Bildern bestünde, würden diese in den verschiedenen Browsern leicht unterschiedlich dargestellt. Die einzige „sichere“ Lösung wäre, wieder alles zu drucken. Aber selbst dann hätte ich den Verdacht, dass man uns noch verbieten möchte, die Zeitung zu falten oder Seiten zu überspringen — und verlangen würde, dass wir nach jedem Artikel Bericht erstatten.
— Andrey Meshkov, Mitgründer & CTO von AdGuard
Fazit
Aus unserer Sicht bei AdGuard geht es in diesem Fall nicht um Werbung. Die eigentliche Frage lautet: Dürfen Menschen selbst bestimmen, wie sie das Internet nutzen — welche Inhalte sie sehen und welche Software sie einsetzen?
Wenn das Blockieren von Tracking, Pop-ups oder Autoplay-Videos plötzlich als Urheberrechtsverletzung gilt, stehen Privatsphäre, Barrierefreiheit und sogar Cybersicherheit auf dem Spiel.
Das Urteil des BGH ist zweifellos ein Rückschlag. Dennoch bleiben wir vorsichtig optimistisch und hoffen auf eine faire und vernünftige Entscheidung des Gerichts.
Bis dahin werden wir weiter dafür sorgen, dass Sie das Web so nutzen können, wie Sie es möchten — und das selbstverständlich im Rahmen des Gesetzes.